Rennbericht – Maratona dles Dolomites 2013

Es ist Sonntag. 3:30 Uhr in der Früh. Ich liege wach. Wälze mich im Bett. Ich bekomme kein Auge zu. Der Bauch grummelt. Ich bin nervös. An Einschlafen ist gar nicht mehr zu denken. Ich liege auf dem Rücken und starre an die Decke des dunklen Hotelzimmers. Ich mache ein paar Dehnübungen und drehe mich anschließend doch noch einmal rum, um noch ein wenig zur Ruhe zu kommen.

5:00 Uhr: Der Wecker klingelt. Ich habe Lampenfieber. Adrenalin schießt durch meinen Körper. Ich ziehe mich an, nehme einen Schluck Kaffee und beiß in mein Marmeladenbrot. Lampenfieber, Reizdarm. Immer wieder muss ich auf´s Klo. Ich schnappe mein „Edelweiß“ und rolle zum Start. Es ist kalt. Mein Puls schon bei 110 Schlägen. Laute Partymusik dröhnt aus den Boxen. Um mich rum eine riesige Menschenmasse und jede Menge Carbon. Ich kehre in mich, falte die Hände, spreche innerlich ein paar Worte gen Himmel. Mein Puls sinkt nicht mehr unter 100 Schläge. Ich stehe in La Villa, im Startort des Maratona dles Dolomites. 138 km und 4.190 hm erwarten mich.

 

Die Wetterprognosen sind wider Erwarten hervorragend. Ich sauge die Atmosphäre noch einmal auf. Der Dorfpfarrer spricht den Startern den Segen Gottes zu. Fernseh-Hubschrauber kreisen am Himmel. Ich bin überwältigt. Werde sentimental. Es bricht aus mir raus. Feuchte Augen und ein leichtes Schluchzen kann ich nicht verbergen.

6:30 Uhr: Die Sekunden werden heruntergezählt. 10, 9, 8, 7, 6, 5, 4, 3, 2, 1 … der Startschuß löst in mir einen kalten Schauer aus. Klickpedale rasten ein. Sehr langsam bewegt sich das Peloton. Es dauert noch eine halbe Ewigkeit bis ich die Lichtschranke der Startlinie überquere. Kurz nach 7 Uhr ertönt das Signal des Transponders. Nun geht der Maratona auch für mich los. Nach meiner Hochrechnung müsste ich ca. in 6 ½ Stunden im Ziel sein.

Es geht zu Beginn jedoch nur sehr langsam vorwärts. Wie eine Armee Ameisen schlängelt sich das Peloton den Campolongo Pass hinauf. Der Puls ist bereits über 170. Ich bin angespannt und hochkonzentriert. Rechts, links, vorne, hinten … überall um mich rum andere Fahrer auf sündhaft teuren Carbonboliden. Der Tacho zeigt nur 9 km/h an einem Anstieg, den man deutlich zügiger fahren könnte. Im Zickzack schlängle ich mich durch das dichte Gedränge Position um Position nach vorne. Ich fühle mich frisch, doch der Tritt läuft nicht rund. Immer wieder muss ich das Tempo rausnehmen, weil absolut kein Durchkommen ist. Es will einfach nicht vorwärts gehen. Auf der Passhöhe fahre ich an der Verpflegungsstation vorbei, in der Hoffnung, daß sich die Masse verteilt. Aber auch am Pordoi Pass soll es nicht anders werden.

Ich bekomme Rückenschmerzen. Meine Vorfreude und die Frische sind auf einmal wie weggeblasen. Warum tue ich mir das hier eigentlich an? Ich schaue mich um und lasse die traumhafte Umgebung auf mich wirken. Bilder in einer Auflösung, die man mit keiner HDKamera festhalten kann, brennen sich tief in mein Gehirn. An eine freie Fahrspur ist immer noch nicht zu denken. Ich kann mein Tempo einfach nicht fahren. Trotzdem mach ich bergauf auch am Pordoi Pass weiter Plätze gut. Als Bergziege liebe ich es, die Pässe zu erklimmen. Bergab geb ich jedoch einige Plätze wieder her. Ich bin ein Schisser. Meine Oberarme sind verkrampft. Ich habe Mühe den Lenker festzuhalten. Ich hoffe, daß auf den anderen Abfahrten alles gut geht und die Bremsen durchhalten. Als es am Sella Pass wieder bergauf geht, bin ich erstmal erleichtert.

Die Temperaturen steigen. Die Schmerzen im Rücken lassen nach. Noch immer dichtes Treiben im Peloton. Die Gelegenheit nutze ich und lasse die traumhafte Landschaft auf mich wirken. Locker kurble ich den Pass hinauf. Wieder lasse ich die Verpflegungsstation links liegen und stürze mich in die Abfahrt.

Endlich! Am Gardena Pass lichtet sich das Fahrerfeld. Die innere Anspannung lässt nach. Der Puls sinkt. Ich richte meinen Blick nach vorne, lege die Hände neben den Vorbau, klappe die gebeugten Ellenbogen gegen die Hüfte und fliege den Berg hinauf. Hunger macht sich breit. Der Magen knurrt. Kein gutes Zeichen. Auf der Passhöhe fahre ich kurz an die Seite und schiebe ein Gel und einen Riegel in mich rein, um mich mehr oder weniger gesättigt auf den Weg bergab nach Corvara zu machen.

Erneut geht es über den Campolongo Pass. Ab in die 2. Runde. Viele sitzen am Straßenrand. Die meisten sind zwecks Panne zur Zwangspause verurteilt. Hält mein Material? Die Sonne zeigt sich in ihrer schönsten Pracht. Aus ihrer wohligen Wärme ist eine brennende Hitze geworden. Ein Faktor, der mir entgegenkommt. Keine Schmerzen mehr. Es läuft. Beim 2. Mal geht´s nun im 16er Schnitt den Pass hinauf. Der Schweiß tropft. An der Verpflegungsstelle entledige ich mich meiner Arm- und Beinlinge, ziehe die Untermütze ab und schlüpfe in die Kurzfingerhandschuhe. Duft von frischem Kuchen liegt in der Luft. Ich entscheide mich für einen Zwischenstop, Der Körper schreit nach Zucker. Ich kann dem Ruf nicht widerstehen und schiebe mir ein Stück nach dem anderen in die Futterluke. Gestärkt mache ich mich auf den Weg in Richtung Cortina d´Ampezzo, der Hochburg für Skihasen. Die Überführungsstraße gewährt fantastische Blicke auf den Marmoladagletscher. Wieder lässt mich die Landschaft sentimental werden. Ich raufe mich zusammen und rase nach Selva di Cadore.

Nun liegt er also vor mir. Der steilste Pass des Maratona. Allein der Name lässt die meisten vor Erfurcht zusammenzucken. Ein Mythos. Eine Legende. Ein Hauch des Giro d´Italia umgibt mich. Ich greife nach dem Maglia Rosa. Passo Giau! Knapp 11 km, über 900 hm und eine durchschnittliche Steigung von über 9,3%. Erbarmungslos reiht sich Rampe an Rampe, ohne Möglichkeit den Druck auf den Beinen ein wenig verringern zu können. Eine Steilwand türmt sich vor mir auf. Ständig wechsle ich die Position auf dem Rad. Im ständigen Wechsel gehe ich in den Wiegetritt und setze mich wieder. Es ist heiß. Der Schweiß tropft. Ich sehe die ersten Radler ihre Räder schieben. Viele sitzen erschöpft und ausgepumpt am Straßenrand. Erschreckend und motivierend zugleich. Ich habe Mitleid mit Ihnen. Die Rückenschmerzen setzen abrupt wieder ein und werden unerträglich. Die Beine brennen. Der Tacho zeigt zeitweise nur 5 bis 7,5 km/h. Der Mann mit dem Hammer schlägt auf mich ein. Ich bin stark, halte aus, biete ihm die Stirn. Ich mache Boden gut. Wahnsinn! Oben habe ich trotz aller Bedenken einen Schnitt am Giau von 10,6 km/h. Ich bin leer. Völlig ausgepowert. Schaffe ich es bis ins Ziel? Schließlich habe ich noch den Valparola als letzten Pass vor mir. Aus diesem Grund gönne ich mir an der Verpflegung gierig unzählige Kuchenstücke und Cola. Der Zucker schießt sofort in den Körper. Ich wage mich in die Abfahrt, die nicht weniger anspruchsvoll ist als der Anstieg. Eine Kehre nach der anderen. Die Bremsen leisten Höchstarbeit.

Unten sind es noch ca. 30 km bis ins Ziel. Erleichterung bringt diese Erkenntnis allerdings nicht. Wie um aller Welt soll ich den letzten Anstieg überstehen? Ich drücke mir ein Gel rein und nehme einen tiefen Schluck aus der Pulle. Die Zielzeit spielt keine Rolle mehr. Dafür ging´s auf den ersten 3 Pässen wegen dem dichten Gedränge zu langsam voran. Heil ankommen ist alles, was noch zählt. Egal wie. Der Schönheitspreis ist längst nicht mehr zu gewinnen. Entgegen meiner Erwartung läuft´s im unteren Teil vom Valparola recht gut. Ich komme voran. Die Steigung ist moderat. Strecken- aber kein Höhengewinn. Was kommt da noch? Kaum war die Frage gestellt, kam auch schon die Antwort. Die Steigung nimmt zu. Die Beine fühlen sich an wie Blei. Meter um Meter kämpfe ich mich weiter. Hotels, Kreisverkehr. War´s das? Ein Blick nach rechts haut mich fast vom Sattel. Zum Finale eine schier unendliche Rampe. Ständig den Scheitelpunkt des Passes vor Augen. Psychoterror! Im Wiegetritt kämpfe ich mich nach oben.

Ich sammle mich und wage mich in die Abfahrt gen Zielort Corvara. Schlaglöcher und Längsrillen fordern höchste Konzentration. Die Hände schmerzen. Die Arme halten krampfhaft den Lenker fest. Endlich unten! Die letzten Kräfte mobilisieren. Völlig befreit rase ich in Zeitfahrmanier in Richtung Ziel. Noch 5 km, noch 2 km. Ich lasse noch mal einige Fahrer hinter mir. Teufelslappen! Noch 1 km. Zuschauer jubeln am Straßenrand. Zielstrich! Der Transponder piept. Ich balle die Faust und lasse den Emotionen freien Lauf. Ich steige vom Rad, gönne mir einen Schluck Sekt und lasse mir von einer Principessa die Finisher-Medallie um den Hals hängen.

Maratona dles Dolomites:

138 km Traumkulisse, 4.190 hm und 7 Passüberquerungen liegen hinter mir.

Das Rad lehnt am Zaun. Der Helm baumelt am Lenker. Die Schuhe stehen neben mir. Ich liege im Gras. Genieße die Sonne. Völlig am Ende, aber überglücklich.